Liebe und Hoffnung

[102] Auf meinem frühen, stillen Gang durch's Leben

Sah ich in holder, lieblicher Gestalt

Die Liebe und die Hoffnung vor mir schweben,

Von lichten Himmelsglorien umwallt.


Die Liebe reichte mir den Kranz von Rosen;

Ich schlang entzückt ihn um mein freies Haupt.

Die Hoffnung hatte unter süssem Kosen

Mit frischem Grün es duftend schon umlaubt.


So folgt' ich seelig meinem stillen Wege,

Und scheute nicht des ernsten Schicksals Zorn;

Doch ach, die Kränze welkten ohne Pflege,

Und mich verwundete der Rosen Dorn.
[102]

Da stand ich zürnend, und im bittern Grimme

Riss ich den bunten Schmuck mir aus dem Haar,

Bis mir aus hohen Lüften eine Stimme

In Busen drang, der tief beklommen war.


»So wirfst Du, sprach sie, Deines Lebens Frieden

Wie welke Blumen in den niedern Staub?

Und jeder höhere Genuss, der Dir beschieden,

Wird Deines Kleinmuths eigensinn'ger Raub?


Behandle achtungsvoll die theuern Gaben,

Mit denen Lieb' und Hoffnung Dich erfreut,

Und wirst Du sie aus reiner Quelle laben,

So siehst Du bald sie jugendlich erneut.«


Da sprach ich weinend: ach, mein Pfad ist enge,

Und windet immer steiler sich hinan;

Durch schroffer Felsen starrendes Gedränge

Führt er empor, und doch nicht himmelan.
[103]

Wie kann ich hier die heil'gen Blüthen pflegen,

Wo keine Quelle rauscht, kein Bächlein fliesst,

Und wo auf den bedornten rauhen Wegen

Sich nur der Wehmuth Thräne still ergiesst.


»So lass der Liebe Rosen denn verbleichen,

Doch halte fest der Hoffnung helles Grün!«

Ertönte mir die Stimme sonder Gleichen,

Und schweigend sah ich meinen Kranz verblühn.


Sie welkten hin, die Rosen, deren Düfte

Mit Himmelsahnungen mich einst berauscht.

Mit Seufzern, ach, vermischt'ich nun die Lüfte,

Mir war, als sei mein Inn'res umgetauscht.


Es zogen Ungewitter, Regenschauer

Und Stürme drohend über mir empor,

So dass in's finstere Gebiet der Trauer

Sich still und ernst mein heitrer Sinn verlohr.
[104]

Doch blieb die Hoffnung tröstend mir zur Seite,

Und sorgsam pfleg'ich noch den zarten Zweig,

Den sie mir gab zum irdischen Geleite,

Er soll mir folgen in des Hades Reich.
[105]

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Gedichte von Natalie. Berlin 1808, S. 102-106.
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