Der Reichsapfel

[160] »Sagt, wo unser Apfel ist getrieben?

War er Paradieses Zier?«

»Auf des Reiches Apfel steht geschrieben:

Ich nicht in Versuchung führ'.«

Sprecht ihr so zum König, Theologen,

Alles weiß ich, was geschieht,

Und dies Eine wird mir so entzogen,

Wo der Apfel hat geblüht?

Jedes Haus von Glas ist ungelogen,

Polizei hinein so sieht,

Alles ist Maschine und Befehlen,

Nichts geschieht, denn jeder sieht,

Einer immer muß den andern quälen,

Daß er in die Karten sieht;

Sollte eines dieser Räder brechen,

Wär' wohl alles schlecht bestellt,

Alles schreibt und keiner will mehr sprechen,

In den Akten sinkt die Welt.

»Sagt, wie mag der heil'ge Apfel schmecken,

Denn ich hab' danach Gelust?«

»König, nein, wir können dich nicht schrecken,

Aber Schauder füllt die Brust!«

Doch der König geht den Apfel holen

In des Domes heil'ge Still',[160]

Wo die Chorherrn singen unverhohlen

»Die Versuchung in mir still.

Und die Chorherrn singen aus der Stille:

Mich nicht in Versuchung führ'.«

Doch die Uhr, ein fester, ernster Wille,

Schlägt, daß sich der Ton verlier.

Auf den Thurm der König steigt mit Springen,

Der sich schwindlig überbeugt,

Wo die hell und dunklen Stunden klingen.

Die der Mann im Harnisch zeigt.

Mit dem Schwerte schlägt er an die Stunden,

Trägt den Apfel in der Hand,

König nun hast du den Apfel funden,

Hast den Apfel kühn entwandt.

Auf dem Apfel liest du nun geschrieben:

»Ich nicht in Versuchung führ'!«

Doch er beist hinein von Lust getrieben,

Seine Zähne brechen schier,

Mitten durch hat er ihn aufgebissen

Und er liest im Apfelstern:

»Reifen muß der Menschen schönes Wissen,

Reif und schwarz wird dann der Kern,

Ist der Apfel früher aufgerissen,

Sinkt verwelkt dein bleicher Stern!«

Wie im Traume schrecklich festgehalten,

Starrt der König, sieht ihn weiß,

Und die Sterne in des Himmels Falten

Bergen sich schon alle leis,

Mann im Harnisch, du kannst ruhig walten,

Diese Stund' verging so leis.

Mit dem Schwerte schlägt er an die Stunde.

Und der König steht davor,

Schlägt in's Hirn ihm eine tiefe Wunde,

Seinem Geist ein offnes Thor.


Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Werke. Band 22: Gedichte, Teil 1, Bern 1970, S. 160-161.
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