6. Kapitel

Die allgemeine sozialistische Arbeitsdienstpflicht

[54] Doktor Leete hörte auf zu sprechen, und ich verharrte in tiefem Schweigen. Ich bemühte mich, mir ein Bild von den veränderten Gesellschaftsverhältnissen zu machen, die einer so ungeheuren Revolution wie der geschilderten auf dem Fuße folgen mußten.

Endlich bemerkte ich: »Die Idee einer solchen Ausdehnung der Regierungsaufgaben ist, gelinde gesagt, geradezu überwältigend.«

»Ausdehnung?« wiederholte er. »Worin besteht die Ausdehnung der Aufgaben?«

»Zu meiner Zeit«, versetzte ich, »war man der Ansicht, daß sich die Aufgaben der Regierung genau genommen darauf beschränken müßten, den Frieden zu erhalten und das Volk gegen den gemeinsamen Feind zu verteidigen. Mit anderen Worten: die Regierung hatte militärische und politische Gewalt auszuüben.«

»Aber um des Himmels willen, wer ist denn der gemeinsame Feind des Volkes?« rief Doktor Leete aus. »Ist es Frankreich, England, Deutschland, oder ist es Hunger, Kälte und Blöße? Zu Ihrer Zeit pflegten die Regierungen bei dem geringsten internationalen Mißverständnis die Leiber ihrer Bürger einzufordern, sie zu Hunderttausenden dem Tode und der Verstümmelung preiszugeben und die Reichtümer der Nationen wie Wasser zu vergeuden. Das alles in der Mehrzahl der Fälle ohne jeden denkbaren Nutzen für die Opfer. Wir haben jetzt keine Kriege mehr, und unsere Regierung besitzt folglich auch keine Kriegsmacht. Um jedoch jeden Bürger gegen Hunger, Kälte und Blöße zu schützen, um für seine sämtlichen körperlichen und geistigen Bedürfnisse zu sorgen, wird unserer Regierung jedesmal für eine bestimmte Anzahl von Jahren die Leitung der Gütererzeugung und Güterverteilung anvertraut. Gewiß, Herr West, wenn Sie nachdenken, so werden Sie finden, daß in Ihrer Zeit und nicht in der unsrigen den Regierungen außerordentlich weitgehende Vollmachten eingeräumt waren. Nicht einmal für die besten Zwecke würden heutzutage die Menschen ihren Regierungen eine Macht zugestehen, wie sie ihnen zu Ihrer Zeit für die unheilvollsten Ziele zu Gebote stand.«[54]

»Ich will keine Vergleiche anstellen«, erwiderte ich, »allein zu meiner Zeit hätte man unfehlbar auf das Demagogentum und die Käuflichkeit unserer Politiker verwiesen, um darzutun, daß die Regierung nicht die Leitung der nationalen Wirtschaft übernehmen dürfe. Wir hätten es für die schlimmste aller Neuerungen gehalten, den Politikern die Leitung der Produktionsmittel des Landes anzuvertrauen, die den Reichtum erzeugen. Schon unter den bei uns bestehenden Verhältnissen waren die materiellen Interessen der Nation nur allzusehr der Spielball von Parteien.«

»Ohne Zweifel hatten Sie recht«, entgegnete Doktor Leete, »aber alles das ist jetzt ganz anders geworden. Wir kennen weder Parteien noch Politiker, und was das Demagogentum und die Käuflichkeit anbelangt, so sind das Worte, die nur noch eine geschichtliche Bedeutung haben.«

»Dann muß sich die menschliche Natur selbst gewaltig geändert haben«, meinte ich.

»Durchaus nicht«, entgegnete Doktor Leete, »aber die Lebensbedingungen der Menschen haben sich geändert und mit ihnen auch die Beweggründe des menschlichen Handelns. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren zu Ihrer Zeit derart, daß die Beamten stets in Versuchung standen, ihre Befugnisse zum eigenen Vorteil oder zu dem anderer zu mißbrauchen. Unter diesen Umständen befremdet es fast, daß Sie ihnen überhaupt die Führung Ihrer Angelegenheiten anvertrauten. Jetzt dagegen ist die Gesellschaft derart organisiert, daß ein Beamter durch Mißbrauch seiner Amtsgewalt durchaus keinen Vorteil für sich oder andere gewinnen könnte. Mag er ein noch so schlechter Beamter sein, bestechlich ist er nicht: es fehlt ihm der Beweggrund dafür. Die Organisation unserer Gesellschaft setzt nicht mehr eine Art Prämie auf die Käuflichkeit. Aber diese Seiten unserer sozialen Ordnung werden Sie erst verstehen, nachdem Sie uns mit der Zeit besser kennengelernt haben.«

»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie die Arbeiterfrage gelöst haben«, bemerkte ich. »Wir haben bis jetzt nur vom Kapital gesprochen. Nachdem die Nation die Verwaltung der Fabriken, Maschinen,[55] Eisenbahnen, der Landwirtschaft und des Bergbaus übernommen hatte, blieb doch die Arbeiterfrage nach wie vor bestehen. Indem die Gesellschaft an die Stelle der Kapitalisten trat, hatte sie auch die Schwierigkeiten der Stellung der Kapitalisten übernommen.«

»In dem Augenblick, wo die Nation an die Stelle der Kapitalisten trat, verschwanden diese Schwierigkeiten«, erwiderte Doktor Leete. »Die nationale Organisation der Arbeit unter einer Leitung war die vollkommenste Lösung der unlösbaren Frage, als die in Ihrer Zeit und unter der Herrschaft der damaligen Wirtschaftsordnung die Arbeiterfrage mit Recht galt. Als die Nation der einzige Unternehmer wurde, da wurden auch alle ihre Mitglieder zufolge ihres Bürgerrechtes Arbeiter, die nach den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Wirtschaft Pflichten zuerteilt erhielten.«

»Das heißt«, warf ich dazwischen, »Sie haben auf die Arbeiterfrage einfach das Prinzip der allgemeinen Dienstpflicht angewendet, wie es zu meiner Zeit verstanden wurde.«

»Ganz recht«, sagte Doktor Leete. »Das ergab sich von selbst, sobald die Nation der einzige Kapitalist geworden war. Das Volk war bereits gewöhnt, es für gerecht zu halten, daß auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht jeder körperlich taugliche Bürger zur Verteidigung der Nation das Seine beitragen müsse. Daß es in gleicher Weise die Pflicht jedes Bürgers sei, für den Unterhalt der Nation seinen Teil Handarbeit oder Kopfarbeit beizusteuern, verstand sich gleichfalls von selbst. Allein diese Art Dienstpflicht konnte erst dann allgemein und planmäßig, ohne Unterschied von allen geleistet werden, als die Gesellschaft der allgemeine und einzige Arbeitgeber geworden war. Die Organisierung der Arbeit war und blieb ein Ding der Unmöglichkeit, solange Hunderte und Tausende von Einzelpersonen und Gesellschaften als Unternehmer auftraten, zwischen denen eine Verständigung weder verlangt wurde noch durchführbar war. Es kam daher tagtäglich vor, daß viele, die gern gearbeitet hätten, keine Beschäftigung fanden, andererseits aber konnten sich auch Leute sehr leicht ganz oder teilweise ihrer Arbeitspflicht entziehen.«

»Wie ich vermute, ist die Arbeit nun wohl für alle zwingende Verpflichtung«, versetzte ich.[56]

»Sie ist mehr selbstverständlich als zwingend«, erwiderte Doktor Leete. »Die Pflicht zu arbeiten gilt für so natürlich und vernünftig, daß kein Mensch mehr daran denkt, sie als einen Zwang aufzufassen. Jemand, der zur Arbeit gezwungen werden müßte, würde für sehr verächtlich gehalten werden. Wollte ich jedoch von der Arbeit als von einer Zwangspflicht sprechen, so würde ich Ihnen nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie unvermeidlich die Arbeit schlechterdings für uns alle ist. Unsere gesamte Gesellschaftsordnung ist völlig auf die Arbeit gegründet und mit ihr verwachsen. Wenn sich jemand seiner Arbeitspflicht entziehen wollte, so hätte er keine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu finden. Ein solcher Wunsch ist jedoch undenkbar. Wer ihn verwirklichen wollte, würde sich aus der Welt ausschließen, von der Verbindung mit seinesgleichen abschneiden, mit einem Worte: er würde Selbstmord begehen.«

»Ist die Dienstpflicht in der Arbeitsarmee eine lebenslängliche?« fragte ich.

»Durchaus nicht. Die Arbeitspflicht beginnt später und endet früher, als dies durchschnittlich in Ihrer Zeit der Fall war. Im neunzehnten Jahrhundert waren die Arbeitsstätten mit Kindern und Greisen überfüllt. Im zwanzigsten Jahrhundert dagegen gehört die Jugendzeit der Erziehung, und das reife Alter, wo die Körperkräfte abzunehmen beginnen, ist für Ruhe und angenehme Erholung bestimmt. Die Arbeitspflicht dauert vierundzwanzig Jahre. Sie beginnt nach Abschluß der Erziehung mit einundzwanzig und endet mit fünfundvierzig Jahren. Nach dem fünfundvierzigsten Lebensjahre ist zwar jeder Bürger der Arbeitspflicht enthoben, allein bis zum fünfundfünfzigsten kann er im Notfall zur wirtschaftlichen Tätigkeit einberufen werden, wenn plötzlich ein großer Mehrbedarf an Arbeitskräften eintritt. Doch sind derartige Fälle nur selten, tatsächlich kommen sie so gut wie nie vor. Der fünfzehnte Oktober jedes Jahres heißt bei uns der Musterungstag. Die jungen Leute, die das einundzwanzigste Jahr erreicht haben, werden an diesem Tage zum Arbeitsdienst ausgehoben, und es findet die ehrenvolle Entlassung derer statt, die nach vierundzwanzigjähriger Arbeit das fünfundvierzigste Lebensjahr erreicht haben. Der Musterungstag ist für uns das große Ereignis des Jahres. Von[57] ihm aus rechnen wir alle übrigen Ereignisse: er ist unsere Olympiade, die sich von der griechischen nur dadurch unterscheidet, daß sie alljährlich wiederkehrt.«

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 54-58.
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