Reis-Abendlied

[77] Nach der Singweise: Jesu! der Du meine Seele, usw.


1.

Brauner Abend, sey willkommen!

Komm, du Arbeitstille Nacht!

Nun der Mond hat angeglommen,

Nun der Tag mich müd gemacht.

Komm, erquicke meine Glieder,

Gib mich mir durch Ruhe wieder,

Laß mich in deß Bettes Grab

Meine Sorgen legen ab.


2.

Sonne, du bist auch zu Bette:

Laß dich morgen wieder sehn!

Wacht, ihr Sternen, in die wette,

Wachet! ich will schlaffen gehn.

Blinket, flinket ihr dort oben:

Ich will euren Schöpfer loben,

Der des Tages Liecht gemacht

Und die Nacht zur Ruh erdacht.


3.

Ja! mein Vater! sey gepriesen

Vor das Gute, das Du mir

Diesen langen Tag erwiesen.

Daß ich frölich steh vor Dir,

Daß kein Unfall mich gefället,

Kein Feind sich zu mir gesellet

Und kein Tod mich tödtet' heut:

Das schafft Deine Gütigkeit.


4.

Gutes ist mir widerfahren,

Böses hast Du abgewandt.

Aller Zorn der Höllen-Scharen

War umsonst auf mich entbrandt.

Deine Gnad hat mich geschützet,

Deine Hand hat mich gestützet.

Guts empfieng ich: meine Sünd

Hatte Böses wol verdient.


5.

Bin ich frey von groben Sünden,

Ich bin das durch Deine Gnad.

Doch Du wirst viel Fehler finden;

Sünde mich vergiftet hat.

Gutes hab ich unterlassen:

Wollest mich darum nit hassen.

Laß durch meines Jesu Pein

Deinem Kind vergeben seyn.


6.

Laß mich frey zu Bette gehen.

Morgen gib durch Deinen Geist,

Daß ich frömmer mög aufstehen,

Thun und lassen, was Du heist.

Wollest, wann ich schlaffe, wachen,

Dein Heer mir zu Hütern machen.

Laß sie über mir bey Nacht

Wie bey Tag auch halten Wacht!
[77]

7.

Schrecke, die mich wollen schrecken!

Wollst mit Deinem Gnaden-Schild

Mich und auch das Meine decken,

Wann die Höll mit Pfeilen zielt.

Laß Dein Liecht im Hertzen glasten!

Laß die müden Glieder rasten,

Daß ich morgen mög die Bahn

Wacker wieder tretten an.


8.

Laß in Deinen Gnaden-Armen

Meine Lieben dort zu Haus,

Die ich Dir befahl, erwarmen.

Feuer, Wind und Wasserbraus,

Mörder-Fäuste, Diebes-Hände

Fern von meiner Hütten wende!

Mein Herz wünschet, wie es soll:

Gute Nacht, schlafft sanft und wol!


9.

Nun so schlaffen wir im Frieden,

Weil die Gottheit uns bewacht.

Böses ist von uns geschieden,

Weil sich Jesus zu uns macht.

Wann die Sternen werden scheiden,

So erwachen wir mit Freuden,

Danken Gott vor Seine Hut:

Ist Gott, so ist alles gut.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 5, Hildesheim 1964, S. 77-78.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon