Trost des ewigen Lebens

[305] Nach einer Prüfung kurzer Tage

Erwartet uns die Ewigkeit.

Dort, dort verwandelt sich die Klage

In göttliche Zufriedenheit.

Hier übt die Tugend ihren Fleiß;

Und jene Welt reicht ihr den Preis.


Wahr ist's, der Fromme schmeckt auf Erden

Schon manchen selgen Augenblick;

Doch alle Freuden, die ihm werden,

Sind ihm ein unvollkommnes Glück.

Er bleibt ein Mensch, und seine Ruh

Nimmt in der Seele ab und zu.


Bald stören ihn des Körpers Schmerzen,

Bald das Geräusche dieser Welt;

Bald kämpft in seinem eignen Herzen

Ein Feind, der öfter siegt, als fällt;

Bald sinkt er durch des Nächsten Schuld

In Kummer und in Ungeduld.


Hier, wo die Tugend öfters leidet,

Das Laster öfters glücklich ist,[305]

Wo man den Glücklichen beneidet,

Und des Bekümmerten vergißt;

Hier kann der Mensch nie frei von Pein,

Nie frei von eigner Schwachheit sein.


Hier such ich's nur, dort werd ich's finden;

Dort werd ich, heilig und verklärt,

Der Tugend ganzen Wert empfinden,

Den unaussprechlich großen Wert;

Den Gott der Liebe werd ich sehn,

Ihn lieben, ewig ihn erhöhn.


Da wird der Vorsicht heilger Wille

Mein Will und meine Wohlfahrt sein;

Und lieblich Wesen, Heil die Fülle

Am Throne Gottes mich erfreun.

Dann läßt Gewinn stets auf Gewinn

Mich fühlen, daß ich ewig bin.


Da werd ich das im Licht erkennen,

Was ich auf Erden dunkel sah;

Das wunderbar und heilig nennen,

Was unerforschlich hier geschah;

Da denkt mein Geist mit Preis und Dank

Die Schickung im Zusammenhang.


Da werd ich zu dem Throne dringen,

Wo Gott, mein Heil, sich offenbart;

Ein Heilig, Heilig, Heilig singen

Dem Lamme, das erwürget ward;

Und Cherubim und Seraphim

Und alle Himmel jauchzen ihm.


Da werd ich in der Engel Scharen

Mich ihnen gleich und heilig sehn,

Das nie gestörte Glück erfahren,

Mit Frommen stets fromm umzugehn.

Da wird durch jeden Augenblick

Ihr Heil mein Heil, mein Glück ihr Glück.
[306]

Da werd ich dem den Dank bezahlen,

Der Gottes Weg mich gehen hieß,

Und ihn zu millionen Malen

Noch segnen, daß er mir ihn wies;

Da find ich in des Höchsten Hand

Den Freund, den ich auf Erden fand.


Da ruft, o möchte Gott es geben!

Vielleicht auch mir ein Selger zu:

Heil sei dir! denn du hast mein Leben,

Die Seele mir gerettet; du!

O Gott, wie muß dies Glück erfreun,

Der Retter einer Seele sein!


Was seid ihr, Leiden dieser Erden,

Doch gegen jene Herrlichkeit,

Die offenbart an uns soll werden,

Von Ewigkeit zu Ewigkeit?

Wie nichts, wie gar nichts gegen sie,

Ist doch ein Augenblick voll Müh!

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 305-307.
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