Reim, Verstand und Dichtkunst

[126] Verschwunden war die Dichtkunst von der Erde,

Verödet lag ihr schönes Vaterland;

Da traten auf den Platz mit Ritterthums Geberde

Ein Araber, der Reim, ein Normann, der Verstand.

Sie kämpften lang' mit wechselnder Beschwerde

Und wurden dann im Streit vertraulich und galant.


Die Dichtkunst kam. Wem wird der Preis gebühren?

»Thut Eure Kappen ab! Wie heißest Du?« »Verstand.«

»Und Du?« »Der Reim.« »Ihr Herrn, Ihr müßt nicht Kriege führen;

Gebt Euch, der Reim zuerst, einander treu die Hand!

Wollt Ihr mir dienen, so muß ich regieren;

Du reite hinten, Reim, Du vor mir her, Verstand!«


Sie zogen. Doch der kühne Normannreiter

Durchstrich so wild und kreuz und quer das Land!

Die Dichtkunst rief. Umsonst! »Dort folg' ich ihm nicht weiter,«

Sprach sie und neigte sich anmuthig und verschwand.[126]

»So bin ich Dichtkunst,« sprach der Reimbegleiter,

»Und treff' ich ihn, ergreif' ich hurtig den Verstand.«

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 126-127.
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