Die Winzerin

[397] Am sonnig weißen Gartenhaus,

Da reifet Traub an Traube,

Die sanfte Schöne tritt heraus

Und prüft die schwere Laube;

Dem blauen Blick des Weibes gleicht

Der Beeren dunkle Menge;

Wohin ihr freundlich Auge reicht,

Lacht freundliches Gedränge.


Rings lockt das noch gefangne Blut

Zu Häupten und zu Füßen,

Und sie beginnt mit stillem Mut

Zu schneiden all die süßen.

Und wie sie mit der lieben Hand

Die grünen Blätter teilet,

Hin schweifet über See und Land

Im Flug der Blick und weilet.


Gleich einer reifen Beere glänzt

Ihr feuchtes Aug hinüber,

Wo's blaut und leuchtet unbegrenzt,

So fern, so fern herüber.

Sie lässet still und ahnungsvoll

Die vollen Trauben sinken,

Bis es in Körben reizend schwoll

Mit tausendfachem Blinken.


Und auf der Laube Marmeltisch

Zu keltern sie beginnet,

Daß aus der Kelter duftig frisch

Das Blut der Traube rinnet.[398]

Wie muß der weißen Arme Zier

Mit holder Kraft sich mühen!

Sie keltert, bis die Wangen ihr

Gleich jungen Rosen blühen.


Sie keltert, daß der Busen fliegt

Und woget ungemessen;

Umsonst, was ihr im Sinne liegt,

Das kann sie nicht vergessen!

Umsonst – wie oft die Krüge sie

Mit starkem Moste füllet,

Sie selber hat den Durst noch nie,

Das Sehnen nie gestillet.


Sie läßt den heißen Rebensaft

Mit treuer Sorge gären,

In kühler Nacht zu milder Kraft,

Zum seltnen Wein sich klären.

Den trägt sie zu den Hütten hin

Auf Höhen und im Tale;

Sie reicht der armen Wöchnerin,

Dem kranken Greis die Schale.


So keltert sie den Edelwein

Im Herbste schon seit Jahren.

Ein Segel kommt im goldnen Schein

Des Abends fern gefahren;

Im Hafen legt das Schiff sich an,

Sie hört die Schiffer singen,

Und einen hochgemuten Mann

Sieht sie ans Ufer springen.


Sie kennt ihn und sie kennt ihn nicht,

Sie starrt hinaus ins Weite,

Als es mit trauter Stimme spricht[399]

Und grüßt schon ihr zur Seite.

Die frohen Klänge mischen sich,

Das Wort hier, dort die Lieder:

»Ratlos verließ der Knabe dich,

Nun kehrt ein Mann dir wieder!


O schau, wie leuchtet's weit und breit,

Wie klar der Tag, die Stunde!

Und reif die schönste Lebenszeit

Küßt mich von deinem Munde!«

Da ist in seine Arme hin

Sie wonnevoll gesunken,

Und weinend hat die Winzerin

Zum ersten Mal getrunken.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 397-400.
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