Cisteron

[166] Welche Freude fühlt der Wandrer,

Zieht er so im Frühlingsstrahle

Durch die schönen, liedervollen,

Wonnigen Provencertale!


Heißer glüht der Kuß der Sonne

Auf den blumenreichen Matten;

Süßre Labung rauscht die Quelle,

Kühler säuseln hier die Schatten.


Voller tönt des Donners Stimme,

Und die Sterne blinken heller;

Rascher blüht die Frucht und reifet,

Und die Liebe zündet schneller.


Unbesiegbar und unendlich

Ist der Liebe banges Sehnen,

Und es nagen in die Herzen

Tiefer ihre Spur die Tränen.


Aber führt der Weg den Wandrer

An den Ort, den ich besinge,

Kann er nicht dem Schauder wehren,

Daß er ihm das Herz durchdringe.


Am Gestade der Durance

Sieht er eines Städtchens Mauern,

Grauberäuchert, hin und wieder

Seine stillen Häuser trauern.


Grausenhafte Felsenschlünde

Sieht der Wandrer dicht daneben,[166]

Selten auf granitnem Blocke

Einen Strauch im Winde beben.


In dem nächtlichen Reviere

Scheint der Tod sich zu ergehen

Und den Leben nachzusinnen,

Die sein Odem wird verwehen.


Von den Klippen, wie verzweifelnd,

Stürzt der Wildbach in die Tiefe,

Und er brauset in den Schluchten,

Ob er bang nach Hülfe riefe.


Furchtsam ruht am Fuß des Berges

Städtchen Cisteron geschmieget,

Wie zu des Gebieters Füßen

Weinend eine Sklavin lieget.


Auf dem Berge ragt Gemäuer,

Und in längst verblichnem Glanze

Herrschten hier von ihrem Schlosse

Einst die Grafen der Provence.


Wie so traurig hier dem Wandrer

Die verfallnen Türme winken:

Alles Edle hier auf Erden,

Alles muß am Ende sinken!


An den Türmen, steil und plötzlich,

Hebt sich eine Felsenmasse,

Eine Herberg für die Wolken,

Auszuruhn auf ihrer Straße.


Und zuhöchst am Felsenhaupte

Steht ein Häuschen, einsam, wüste,

Wo der Heide mit dem Opfer

Seine Götter einst begrüßte.[167]


Doch in unsern schlimmen Tagen

Ward der Tempel zum Gefängnis,

Wo die Tyrannei ihr Opfer

Quält in heimlicher Bedrängnis.


Ludewig, du böser König!

Richelieu, du arger Priester!

Wagt der König nicht den Frevel,

Schon vollbringt ihn der Minister.


Zu beklagen ist die Menschheit,

Will ein Priester ihr gebieten;

Statt den Himmel ihr zu geben,

Raubt er ihr die Erdenblüten.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 166-168.
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