Der nächtliche Zug

[570] Am Himmel schwere dunkle Wolken hangen

Und harrend schon zum Walde niederlauschen.

Tiefnacht; doch weht ein süßes Frühlingsbangen

Im Wald, ein warmes, seelenvolles Rauschen.

Die blütentrunknen Lüfte schwinden, schwellen,

Und hörbar rieseln alle Lebensquellen.

O Nachtigall, du teure, rufe, singe!

Dein Wonnelied ein jedes Blatt durchdringe!

Du willst des Frühlings flüchtige Gestalten

Auch nachts in Lieb und Sehnsucht wach erhalten,

Daß sie, solang die holden Stunden säumen,

Vom Glücke nichts verschlafen und verträumen.

Faust aber reitet fürder durch die Nacht

Und hat im düstern Unmut nimmer acht

Der wunderbar bewegten Frühlingsstimmen.

Er läßt nunmehr sein Roß gelassen schlendern

Den Weg dahin an frischen Waldesrändern.

Leuchtkäfer nur, die hin und wieder glimmen,

Bedämmern ihm die Pfade manchesmal,

Und selten ein verlorner Sternenstrahl.

Je tiefer ihn die Bahn waldeinwärts führt,

Je stiller wirds, und ferner stets verhallen

Der Bäche Lauf, das Lied der Nachtigallen,

Der Wind stets leiser an den Zweigen rührt.[570]

Was leuchtet dort so hell zum Wald herein,

Daß Busch und Himmel glühn in Purpurschein?

Was singt so mild in feierlichen Tönen,

Als wollt es jedes Erdenleid versöhnen?

Das ferne, dunkle, sehnsuchtsvolle Lied

Weht süßerschütternd durch die stille Luft.

Wie einem Gläubigen, der an der Gruft

Von seinen Lieben weinend, betend kniet,

In seine hoffnungsmilden Schmerzensträume

Hinter den Gräbern flüstern die Gesänge

Der Seligen: so säuseln diese Klänge

Wohllautend durch die aufhorchsamen Bäume.

Faust hält sein Roß und lauscht gespannter Sinne,

Ob nicht der helle Schein und Klang zerrinne

Vor Blick und Ohr, ein träumerischer Trug?

Doch kommts heran, ein feierlicher Zug.

Da scheucht es ihn, ins Dunkel hoher Eichen

Seitab des Wegs mit seinem Roß zu weichen,

Und abzuschreiten zwingt unwiderstehlich

Der Zug ihn jetzt, der näher wallt allmählich.

Mit Fackellichtern wandelt Paar an Paar,

In weißen Kleidern, eine Kinderschar,

Zur heilig nächtlichen Johannisfeier,

In zarten Händen Blumenkränze tragend;

Jungfrauen dann, im ernsten Nonnenschleier

Freudvoll dem süßen Erdenglück entsagend;

Mit Kreuzen dann, im dunkeln Ordensrocke,

Ziehn priesterliche Greise, streng gereiht,

Gesenkten Hauptes, und in Bart und Locke

Den weißen Morgenreif der Ewigkeit.

Sie schreiten singend fort die Waldesbahnen.

Horch! wie in hellen Kinderstimmen singt

Die Lebensahnung, und zusammenklingt

Mit greiser Stimmen tiefem Todesahnen!

Horch, Faust, wie ernster Tod und heitres Leben,[571]

In Gott verloren, hier so schön verschweben!

Er starrt hervor aus dunklem Buschesgitter,

Die Frommen um ihr Glück beneidend bitter.

Als sie vorüber, und der letzte Ton

Des immer fernern, leisern Lieds entflohn,

Und als der fernen Fackeln letzter Schein

Den Wald noch einmal zauberhell verklärt

Und nun dahin am Laube zitternd fährt,

Als Faust im Finstern wieder steht allein:

Da faßt er fest und wild sein treues Roß

Und drückt das Antlitz tief in seine Mähnen

Und weint an seinem Halse heiße Tränen,

Wie er noch nie so bitter sie vergoß.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 570-572.
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