97.
Die Demuth

[227] Ich wuchs empor, wie Weidenbäume

Von manchem Nord geschlenkt

Ihr niedrig Haupt in lichte Wolken heben,

Wenn nun der Frühling lacht.


Ich kroch empor wie das geschmeide Ephen

Durch Schutt und Mauern Wege findt,

An dürren Stäben hält und höher

Als Sie, zum Schutt an ihren Füßen

Hinunter sieht.


Ich flog empor, wie die Rakete

Verschlossen und vermacht, die Bande

Zerreißt und schnell, sobald der Funken

Sie angerührt, gen Himmel steigt.


Ich kletterte wie junge Gemsen,

Die nun zuerst die Federkraft

In Sehn'n und Muskeln fühlen, wenn sie

Die steile Höh' erblicken, empor.


Hier häng ich itzt aus Dunst und Wolken

Nach dir furchtbare Tiefe, nieder –

Giebts Engel hier? O komm ein Engel

Und rette mich!


O wenn ich diesen Felsengang stürzte,

Wo wär, ihr Engel Gottes! mein Ende?

Wo wär ein Ende meiner Thränen

Um dich, um dich verlorne Demuth?[228]


Dich der Christen und nur der Christen

Einziger, allerhöchster Seegen

Heiliger Balsam! der die Wunden

Des schwingeversengenden Stolzes heilt.


Einzige Lindrung edler Gemüther,

Wenn in der trostlosen, heißen, öden,

Heißen, öden, verzehrenden Wüste

Eitler Ehre sie sich verirrt.


Wann sie schmachteten und nicht fanden

Wo sie den Durst der Hölle stillten

Der ihr Gebein verzehrte.


Wann sie, verzweifelnd um Schatten, wählten

Wege nach Morgen, nach Mittag, nach Abend

Und nicht fanden, nicht fanden, nicht fanden

Wo ein Schatten sie kühlete.


Wenn sie auf unmitleidigen Sand hin-

ab sich stürzten und strekten und weinten.

Ach die Thränen rolleten auf und nieder

So heiß war der Sand.


Komm der Christen Erretter und Vater,

Komm du Gott in verachteter Bildung!

Komm und zeige der Demuth geheime

Pfade mir an.


Führe mich weit und nieder hinunter

In ihre dunkeln Schattenthale

Voll lebendiger springender Brunnen,

Wo die Einsamkeit oder die Freude

Also lispelt:[229]


»Komm' gerösteter Laurentius

Unglükseeliger Sterblicher!

Ruh' von deinem Streben nach Unglük,

Ruhe hier aus.


Oder wenn von glüklicherm Streben

Du zu ruhen, Beruf in dir fühlest,

Wenn deine Flügel sinken,

Wenn deine Federkraft sich zurüksehnt,

Du die Gebeine nur fühlst, der Geister

All entledigt – Gerippe –

Ruhe hier aus!


Horch! hier singen die Nachtigallen,

Auch Geschöpfe, wie du, und beßer,

Denn ein Gott hat sie singen gelehrt

Und sie dachten doch nie daran, ob sie

Beßer sängen als andre.


Hier, hier Sterblicher! sieh hier rauschen

Quellen in lieblichen Melodien,

Jede den ihr bezeichneten Weg hin

Ohne Gefahr.


Sieh hier blühen die Blumen wie Mädgen

In ihrer ersten Jugend-Unschuld,

Unverdorbene Lilien-Mädgen;

Ja sie blühen und lächeln und buhlen

Ungesehen und unbewundert

Mit den Winden der lauen Luft!


Lerne von ihnen, für wen blühn sie?

Für den Gott, der sie blühen machte

All in ihrer unnachahmlichen

Blumen Naivetät.[230]


Sieh den Weg an! irrte hier jemals

Ein animalischer Fuß?

Blüh'n doch, blühen dem guten Schöpfer

Der sie gemacht.


Hier, hier Sterblicher! hier wo Jesus,

Als er ein Knabe war,

Hier wo Jesus, dein Jesus geschlummert

Bis ins dreißigste Jahr.


Hier wo Er aus dem Getümmel der tollen

Plumpen Bewundrer sich hergestohlen,

Hier seinen reinen Athem dem Vater,

Seufzend über die Thorheit und Mühe

Menschlicher Grillen, zurükgeschikt hat;


Hier, hier Sterblicher! hier wo Jesus

Von seinen Gottesthaten geruht,

Hier, hier ruhe von den Spielen

Deiner dir anvertrauten Kindskraft.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 227-231.
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