16.

[95] Wie Amor gar sehr wohlgemuth

Mit einem Schlüsslein schliessen thut

Das Herz des Liebenden, der Art,

Dass nicht mal's Hemd verletzet ward.


Dann zieht er aus 'nem Beutelein

Ein Schlüßlein gut gemacht und fein,

Das war von Gold' fein ausgelegt –

Nun ist – so sagt' er, wohlgehegt

Dein Herz – ich will kein ander Pfand,

Denn dieser Schlüssel gnügt zur Hand;

Bei meiner Seel', er ist zwar klein,

Doch schließet er mein Schmuckkästlein,

Und ist von großer Brauchbarkeit.


Spricht der Liebende.


Dann fasset er mich in die Seit',

Und schließt mein Herz so sänftlich gar,

Daß ich den Schlüssel kaum gewahr'.[96]

So war gethan sein Wille jetzt,

Und außer Zweifel er gesetzt.

Herr, sprach ich, ich hab' ganz den Willen

Wohl Eure Heischung zu erfüllen;

Doch meinen Dienst nehmt an in Gnad'

Und Glauben, wie's mir wohl anstat.

Aus Prahlerei nicht sprach ich das,

Denn um den Dienst ist mir's nicht Spaß;

Vergebens müht ein Diener sich,

Zu thun den Dienst recht wirksamlich,

Wenn nicht nach Neigung und Gemüth'

Der Dienst dem, welcher ihn versieht.


Spricht Amor.


Spricht Amor; O da gräm' Dich nicht,

Daß Du bei mir in Dienst und Pflicht;

Dein Dienst soll mir befohlen sein,

Ich setz' in hohes Amt Dich ein;

Vertreibt Dich nicht die eigne List.

Doch Hoffnung füllt in kurzer Frist

Sich auch nicht; große Lust und Freud',

Die will dann auch Geduld und Zeit.

Wart' ab und dulde jetzt den Gram,

Der eben auf Dich drang und kam,

Denn ich weiß wohl, durch welches Kraut

Du gänzlich wieder wirst erbaut.

Und hast Du nachher Gut's gethan,[97]

Geb' ich Dir solch' Geheimniß an,

Das Dich vor Klage wohl bewahre,

Und dies erscheint, bei meinem Haare!

Wenn Du mir dienst mit gutem Will'n,

Und je nachdem Du wirst erfüll'n

Die Heißungen bei Nacht und Tage,

Die feinen Liebenden ich sage.


Spricht der Liebende.


Herr, sagte ich – um Gottes Gnad',

Bevor Ihr nun von dannen ga't,

Beauftragt mich noch und befehlt,

Ich bin zu dienen ganz beseelt.

Denn Hoffnung deß, das man nicht weiß –

Kann leichtlich bringen aus dem Gleis'.

Drum bin ich eilig es zu sehn,

Und will gewiß Nichts mißverstehn.


Amor.


Amor versetzt: Du sprichst nicht schlecht,

So nimm den Spruch und wahr' ihn recht:

Des Lehrers Müh' ist ganz verkehrt,

Wenn nicht der Schüler, der ihn hört,

Recht Achtung gibt, daß er's behält,

Damit es wieder ein ihm fällt.


Der Liebende.


Der Gott der Lieb' gab nun Befehl[98]

Ganz so wie ich's Euch flugs erzähl'.

Von jeglichem Befehl' Bericht

Gibt ganz ausführlich dies Gedicht:

Wer lieben will, der habe Acht,

Wie dies Gedicht es vorgemacht.

Man höret gern zu und mit Fleiß,

Wenn Einer zu erzählen weiß. –

Des Traumes End' ist schön dabei,

Der Stoff daran ist völlig neu.

Und wer den Traum zu Ende las,

Der hat gewiß – ich sag' Euch das –

Der Liebe Spiel, gar wohl durchdacht,

Drum wolle Jeder geben Acht,

Wie ich im Sänge aufgezählt,

Was Alles dieser Traum enthält;

Die Wahrheit, die jetzt liegt versteckt,

Die wird dann offen aufgedeckt,

Wenn Ihr den Traum zu Ende hört –

Wo nichts Unwahres ich gelehrt.


Quelle:
Guillaume de Lorris: Das Gedicht von der Rose. Berlin 1839, S. 95-99.
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