Nächtliche Fahrt

[668] Jüngst im Traum ward ich getragen

Über fremdes Heideland;

Vor den halbverschlossnen Wagen

Schien ein Trauerzug gespannt.


Dann durch mondbeglänzte Wälder

Ging die sonderbare Fahrt,

Bis der Anblick offner Felder

Endlich mir bekannter ward.


Wie im lustigen Gewimmel

Tanzt nun Busch und Baum vorbei!

Und ein Dorf nun – guter Himmel!

O mir ahnet, was es sei.


Sah ich doch vorzeiten gerne

Diese Häuser oft und viel,

Die am Wagen die Laterne

Streift im stummen Schattenspiel.


Ja, dort unterm Giebeldache

Schlummerst du, vergeßlich Herz!

Und daß dein Getreuer wache,

Sagt dir kein geheimer Schmerz.


– Ferne waren schon die Hütten;

Sieh, da flattert's durch den Wind!

Eine Gabe zu erbitten

Schien ein armes, holdes Kind.


Wie vom bösen Geist getrieben

Werf ich rasch der Bettlerin

Ein Geschenk von meiner Lieben,

Jene goldne Kette, hin.
[668]

Plötzlich scheint ein Rad gebunden,

Und der Wagen steht gebannt,

Und das schöne Mädchen unten

Hält mich schelmisch bei der Hand.


»Denkt man so damit zu schalten?

So entdeck ich den Betrug?

Doch den Wagen festzuhalten,

War die Kette stark genug.


Willst du, daß ich dir verzeihe,

Sei erst selber wieder gut!

Oder wo ist deine Treue,

Böser Junge, falsches Blut?«


Und sie streichelt mir die Wange,

Küßt mir das erfrorne Kinn,

Steht und lächelt, weinet lange

Als die schönste Büßerin.


Doch mir bleibt der Mund verschlossen,

Und kaum weiß ich, was geschehn;

Ganz in ihren Arm gegossen

Schien ich selig zu vergehn.


Und nun fliegt mit uns, ihr Pferde,

In die graue Welt hinein!

Unter uns vergeh die Erde,

Und kein Morgen soll mehr sein!


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 668-669.
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