Die Ketzerin

[162] Fra Dolcin, der Ketzer, der von Dante

In den achten Höllenkreis Gebannte,

Hat ein Weib geliebt, von dem sie sagen,

Daß kein schönres lebt' in jenen Tagen.

Kamen seine Jünger ihn zu grüßen,

Saß die Blonde schon zu seinen Füßen,

Segnet' er das Volk mit frevler Rechten,

Neigte sie zuerst die goldnen Flechten;

Dem Verfemten folgte sie, dem Fliehnden,

Durch die Schluchten des Gebirges Ziehnden –

Da er von den Schergen ward gefangen,

Ist sie seinen Fesseln nachgegangen;

Wo er in der Flamme sich gewunden,

Steht auch sie am Marterpfahl gebunden.


Lieblich ist, die Fra Dolcin verführte,

Wie noch nie ein Weib die Herzen rührte;

Augen, unergründlich wunderbare,

Schaun, als ob sie zu den Sel'gen fahre.

Die sie richten, fragen sich mit Grauen:

Kann die Hölle wie der Himmel schauen?

Und es zittern vor dem unschuldvollen

Engelsantlitz, die sie martern wollen.


Selbst der Priester spricht mit ihr gelinde,

Als mit einem irrgegangnen Kinde:

»Schwaches Weib, der dich verleitet hatte,

Weder Bruder war er dir, noch Gatte!

Seine Asche treibt im Wind! Verflogen

Sind die Stapfen, die dich nachgezogen!

Büße! Folge reuig den Geboten

Unsrer heil'gen Kirche! Laß den Toten!«

In den Banden kann sich nicht bewegen[162]

Margherita, nur die Lippen regen:

»Leiden muß ich, was Dolcin gelitten...

Horch, er ruft! Ich folge seinen Schritten« –

Und die warmen, tiefen Blicke strahlen –

»Durch die Martern folg ich, durch die Qualen!«

– »Ketzerin, dich stärken finstre Mächte!

Brände her!«... Es rühren sich die Knechte.


Siehe da! Wie flammendes Gewitter

Unter die Gescheuchten fährt ein Ritter,

Will den schönen Dämon sich erstreiten;

Er bemächtigt sich der Maledeiten,

Ihre Kniee faßt er mit der Linken,

In der Rechten droht des Schwertes Blinken:

»Tretet aus die Glut! Bei Gottes Leibe,

Löscht die Fackeln! Weg von meinem Weibe!

Sage ja... mit einem Wink der Lider...

Und vom Scheiterhaufen steigst du nieder!

Keiner wird auf meiner Burg es wagen,

Dich um deinen Glauben zu befragen!«


– »Laß mich ziehn!... Ich darf mich nicht verweilen...

Horch, Dolcino ruft!... Ich muß mich eilen...

Gib mich frei!« er weicht mit einem herben

Hohngelächter: »Mag die Törin sterben!«


Über ihrem blonden Haupt zusammen

Schlagen Todesflammen, Liebesflammen.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 162-163.
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