Lutherlied

[200] Ein Knabe wandert über Land

In einem schlichten Volksgewand,

Gewölke quillt am Himmel auf,

Er blickt empor, er eilt den Lauf,

Stracks fährt ein Blitz mit jähem Licht

Und raucht an seiner Ferse dicht –

So ward getauft an jenem Tag

Des Bergmanns Sohn vom Wetterschlag.


Schmal ist der Klosterzelle Raum,

Drin lebt ein Jüngling dumpfen Traum,

Er fleißigt sich der Möncherei,

Daß er durch Werke selig sei,

Ein Vöglein blickt zu ihm ins Grab,

»Luthere«, singt's, »wirf ab, wirf ab!

Ich flattre durch die lichte Welt,

Derweil mich Gottes Gnade hält.«


In Augsburg war's, daß der Legat

Ein Mönchlein auf die Stube bat,

Er war ein grundgelehrtes Haus,

Doch kannt er nicht die Geister aus,

Des Mönchleins Augen brannten tief,

Daß er: »Es ist der Dämon!« rief –

Du bebst vor diesem scharfen Strahl?

So blickt die Wahrheit, Kardinal!


Jetzt tritt am Wittenberger Tor

Ein Mönch aus allem Volk hervor:

Die Flamme steigt auf seinen Wink,

Die Bulle schmeißt hinein er flink,

Wie Paulus schlenkert' in den Brand[200]

Den Wurm, der ihm den Arm umwand,

Und über Deutschland einen Schein

Wie Nordlicht wirft das Feuerlein.


In Worms sprach Martin Luther frank

Zum Kaiser und zur Fürstenbank:

»Such, Menschenherz, wo du dich labst!

Das lehrt dich nicht Konzil noch Papst!

Die Quelle strömt an tiefrem Ort:

Der lautre Born, das reine Wort

Stillt unsrer Seelen Heilsbegier –

Hier steh ich und Gott helfe mir!«


Herr Kaiser Karl, du warst zu fein,

Den Luther fandest du gemein –

Gemein wie Lieb und Zorn und Pflicht,

Wie unsrer Kinder Angesicht,

Wie Hof und Heim, wie Salz und Brot,

Wie die Geburt und wie der Tod –

Er atmet tief in unsrer Brust,

Und du begrubst dich in Sankt Just.


»Ein feste Burg« – im Lande steht,

Drin wacht der Luther früh und spät,

Bis redlich er, und Spruch um Spruch,

Verdeutscht das liebe Bibelbuch.

Herr Doktor, sprecht! Wo nahmt Ihr her

Das deutsche Wort so voll und schwer?

»Das schöpft ich von des Volkes Mund,

Das schlürft ich aus dem Herzensgrund.«


Herr Luther, gut ist Eure Lehr,

Ein frischer Quell, ein starker Speer:

Der Glaube, der den Zweifel bricht,

Der ew'gen Dinge Zuversicht,

Des Heuchelwerkes Nichtigkeit!

Ein blankes Schwert in offnem Streit! –

Ihr bleibt getreu trotz Not und Bann

Und jeder Zoll ein deutscher Mann.


In Freudenpulsen hüpft das Herz,

In Jubelschlägen dröhnt das Erz,[201]

Kein Tal zu fern, kein Dorf zu klein,

Es fällt mit seinen Glocken ein –

»Ein feste Burg« – singt jung und alt,

Der Kaiser mit der Volksgewalt:

»Ein feste Burg ist unser Gott,

Dran wird der Feind zu Schand und Spott!«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 200-202.
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