Der Kelch der Weisheit

[67] An Philotheon.


Drey Brüder schifften nach der Insel

Der Weisheit, die der blasse Pinsel

Des Erdensohns nicht malen kann.

Itzt landen sie nach langem Pflügen

Des Oceans am Ufer an.

Es war im Frühling. Voll Vergnügen

Sehn sie den Felsen vor sich liegen,

Auf dessen Scheitel der Altar

Der Göttlichen gegründet war,

Den Davids Sohn ihr einst erbaute.

Er trug den goldenen Pokal,

In den ein flüßiger Crystal

Aus einer Rosenwolke thaute.

Der jüngste Bruder eilt und klimmt

Zuerst hinauf, springt hin und nimmt,

Um ihn auf einmal auszuleeren,

Den Kelch und stürzt ihn gierig ein.

Doch schnell gerann der Trank zum Stein.

Umsonst war schlürfen, rütteln, kehren;

Er setzt den Kelch verdrießlich hin,

Entschlossen wieder heimzuziehn.[68]

Ich gehe mit, versetzt der zweyte;

Allein den Kelch nehm ich als Beute

Von meiner Wallfahrt mit nach Haus

Und trink auf meinem Ruhebette,

Mit Sirup wohl versetzt, ihn aus.

Er faßt ihn; doch die Demantkette

Des Schicksals hält ihn mauerfest

An dem Altar. Daß dich die Pest!

Rief er, kommt Brüder, laßt uns eilen:

Hier spuckt der Satan und sein Heer.

Ich, sprach der dritte, will hier weilen!

Vielleicht – Schon hören sie nicht mehr.

Der neue Siedler läßt die Gecken

Von hinnen ziehn, baut sich ein Haus

Von laubichten Wachholderhecken,

Sucht Schwämme, gräbt sich Wurzeln aus,

Wovon ihm auch die bittern schmecken

Und lechzet er im Mittagsstrahl

Nach einem Trunk zum kargen Mahl;

So fällt er zu des Altars Füßen

Und ruft voll Inbrunst: laß, o laß

Zum Labsal vom geweihten Naß

Mir, Göttin, ein Paar Tropfen fließen!

Nie bat der biedre junge Mann

Vergebens; mit gestärkter Seele[69]

Griff er den Kelch. Der Balsam rann

Wie Muttermilch in seine Kehle,

Und ehe noch vom Felsenhang

Das Lied der himmelblauen Meise

Den traubenreichen Herbst besang,

War er, was wenig werden – weise.

O glaube, glaube mir, mein Sohn;

Uns führt kein flacher Sammethügel

Zur Weisheit. Mancher ehrne Riegel

Versperrt die Bahn zu ihrem Thron;

Auch leert man ihre Götterschale

Nicht, wie Campanische Pokale,

Auf einmal aus; noch kannst du sie

Auf weiche Polster zu dir rufen.

Wer nicht mit Schweiß die schroffen Stufen

Des Bergs ersteigt; der schauet nie

Ihr Angesicht. Doch trittst du frühe,

Und ungetäuscht von Heldenwahn

Und eitler Furcht, die Wallfahrt an;

So lohnt die Göttin deine Mühe;

Sie flößt dir ihren Nektar ein,

Und alles Glück der Welt ist dein.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 67-70.
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