Der alte Gondolier

[20] 1833.


Es sonnt sich auf den Stufen

Der seebespülten Schwelle

Ein Greis am Rand der Welle,

In weißer Locken Zier:

Und gerne steht dem Fremdling,

Der müßig wandelt, Rede

Auf seiner Fragen jede

Der alte Gondolier.


Er spricht: Ich habe rüstig

Lagun und Meer befahren;[20]

Doch hab ich nun seit Jahren

Kein Ruder eingetaucht:

Es hangt die morsche Gondel

An Stricken in der Halle,

Wo Alles im Verfalle,

Wo Alles ungebraucht.


Es ist der Herr des Hauses

Nach fernen Himmelstrichen

Seit langer Zeit entwichen,

Für unsre Bitten taub;

Der Gute zog von hinnen

Am Tag, als Bonaparte

Der Republik Standarte

Ließ werfen in den Staub.


Er stand in besten Jahren,

Als er von uns geschieden;

Doch, lebt er noch hienieden,

So ist's ein greiser Mann.

Er sprach: Und soll ich dienen,

So sei's in fremden Ländern:

Hier soll mit Ordensbändern

Mich schmücken kein Tyrann!


Wir blieben, ach, und schauten,

Wie Kirchenraub und Schande

Beging die schnöde Bande

Nach schnellgebrochnem Eid!

Wir sahn, wie jene Wilden

Den Bucentaur zerschlugen,

Und unsre Seelen trugen

Ein unerhörtes Leid!


Wir sahn den Markuslöwen

Zum fernen Strand entführen,

Wir sahn, wie man mit Schwüren

Und mit Besiegten scherzt!

Wir sahn zerstört von Frevlern,

Was würdig schien der Dauer,

Wir sahn an Tor und Mauer

Die Wappen ausgemerzt.
[21]

Doch leb ich und betrachte

Die teure Stadt noch immer,

Erquick im Morgenschimmer

Die Glieder schwach und alt.

Von meines Herrn Palaste

Vermocht ich nicht zu weichen,

Auch läßt er gern mir reichen

Den kleinen Unterhalt.


Da denk ich meiner Jugend,

Und wie ich als Matrose

Gefolgt der Windesrose

Bei Sturm und Sonnenstrahl;

Und wie blockierte Tunis

Und jene Türkenrotte,

Mit seiner schönen Flotte,

Venedigs Admiral.


O holder Tag, als Emos

Heimzug die Fluten teilte,

Und ihm entgegen eilte

Der Doge Paul Renier!

Gedenk ich jener Zeiten,

Wird meine Seele milder:

Es fliegen jene Bilder

Wie Engel um mich her!


Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 20-22.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1834)
Gedichte
Gedichte. Auswahl.
Wer wusste je das Leben?: Ausgewählte Gedichte
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gedichte: Ausgabe 1834

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon