Sehnliches Verlangen

[187] Nach der himlischen und unaußsprechlichen Herrligkeit des zukünfftigen ewigen Lebens.


1.

O Gott, was ist das für ein Leben,

Was ist das für ein himmlisch Liecht,

Das du uns wilt aus Gnaden geben,

Wenn wir von dir nur lassen nicht?

Es ist ein Leben sonder Tod,

Das nimmer weis von Angst uff Noth,

Es ist ein Leben sondern trauren,

Das sol und muß ohn' Ende tauren.


2.

Es ist ein Leben sonder Schmertzen,

Es ist voll hoher Würdigkeit,

Da böse Lust nicht kommt zum Hertzen,

Da man nicht spüret Zanck noch Streit,

Ja da man weder Tag noch Nacht

Auff Krieg und Unruh' ist bedacht,

Da man sich vollenkömmlich liebet

Und Gott zu loben stetig übet.


3.

Mein Hertz, Gott, wallet mir vor Frewden,

Im Fall' ich nur gedencke dran,

Wie deine Klarheit mich bekleiden

Und deine Lieb' ergetzen kan.

Wie dürstet mich nach diesem Tranck'!

Ich werde für Verlangen kranck.

Ich habe Lust, diß zu betrachten

Und deine Wunder hoch zu achten.


4.

Das ist mein' höchste Frewd' auff Erden,

Wenn ich, O Herr', in deiner Gunst

So freundlich mag entzucket werden

Und fühlen deiner Liebe Brunst.

Denn bin ich rechter Wollust voll,

Wenn ich dich, Liebster, küssen sol;

So kan ich dir mein armes Leben

Und alles, was ich hab', ergeben.


5.

Wie bin ich doch so hoch erfrewet,

Wenn ich nur von dir reden mag,

Wenn meine Seele nach dir schreyet

Und suchet dich den gantzen Tag.

Ja wenn ich singen mag von dir,

O liebster Heyland, für und für,

So wündsch ich tausendmal zu stehen,

Wo dich die Cherubinen sehen.


6.

Wenn ich mag täglich etwas lesen

Von deiner grossen Herrligkeit,

So kan mein schwacher Geist genesen,

Der dir zu dienen wird bereit.

Durch dich, O Heyland, kan allein

Mein Elend mir erträglich seyn.

Ja wenn ich mich zu dir mag wenden,

So wolt' ich gern mein Leben enden.


7.

Ich wandle frölich auff der Awen,

Die mir dein' Hand gezeiget hat;

Da kan ich solche Kräuter schawen,

Die auch der Seelen wissen Rath;

Da kost' ich für das Sünden Gifft

Dein edles Wort, die werthe Schrifft;

Die schaffet, daß all' Angst verschwindet

Und daß mein Geist viel Trost empfindet.
[187]

8.

O seligs, unbeflecktes Leben,

O wunder-süsses Gnaden-reich,

Wie kanst du so viel Wollust geben,

Wie magst du uns den Engeln gleich!

Wie bist du doch ohn' alle Zeit

Beschlossen mit der Ewigkeit!

Wie werd' ich mit so süssen Weisen

In dir des höchsten Güte preisen!


9.

O wolte Gott, ich solt' ablegen

Bald meiner Sünden schwere Last,

Die mir so manche Noth erregen

Und zu verzweifflen treiben fast!

O wolte Gott, ich solte mich

Entkleiden durch des Todes Stich

Und, was ich wündsche mit Verlangen,

Die Kron des Lebens bald empfangen.


10.

O daß ich von der Hand des Herren

Solt' ewiglich begabet seyn!

Ich wolte meinen Mund auffsperren

Und mit den schönen Geisterlein

Ohn' Ende singen frisch allda

Daß Frewdenreich' Alleluja.

Denn wolt' ich Stimm und Schrifft verblümen,

Des Herren Güt' allein zu rühmen.


11.

Herr Jesu, laß mich ewig stehen

Bey deiner außerwehlten Schaar,

Herr Jesu, laß mich frölich sehen

Dein göttlichs Antlitz jmmerdar.

Mein Heyl, mein Trost, mein Zuversicht,

Komm, zeige mir dein klares Liecht.

Herr, hilff und laß mich überwinden,

Den Himmel und dich selbst zu finden.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 2, Hildesheim 1964, S. 187-188.
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