Tempe

[84] Durch welch geheimen Zwang

Erwacht mein schlafender Gesang?

Ich fühle wiederum die Herrschaft weiser Musen.

Wie stürmet nicht in meinem Busen

Die ungestüme Glut,

Und reisst mich hin in trunkner Wuth!


Täuscht mich der süsse Wahn?

Welch Thal der Freuden lockt mich an

Mit frischbethautem Grün, mit ambrareichen Lüften?

Wie plaudert in der Berge Klüften

Der wache Wiederhall!

Die Vögel singen überall!
[84]

Durch kühle Büsche rauscht

Ein Zephyr, der um Floren lauscht:

Es murmelt mancher Bach; es wandelt unter Bäumen

Der holde Schlaf mit holdern Träumen.

Entzückendes Revier!

Dich, himmlisch Tempe, seh ich hier!


Hier, wo der Pelion,

Wo der Olymp, der Götter Thron,

Sich in die Wolken thürmt aus heerdenvollen Matten:

In dieser grüner Lorbeern Schatten

Gläntzt, als ein glatter See,

Der Peneus durch beblühmten Klee.


Die Gegend ist so schön,

Daß hier die Musen sich ergehn.

Thalien seh ich dort bedornte Rosen pflücken:

Die Schalkheit spricht aus ihren Blicken;

Und ihren Mund beseelt

Ein Lächeln, das die Thoren quält.


Wer scherzt an ihrer Hand?

Ists Clio, deren leicht Gewand

Nachlässig flatternd wallt und nicht mit Golde prahlet?

Fontaine, der verewigt strahlet,

Sang einst an ihrer Brust

Von Hymens Qual und Amors Lust.


Du aber irrst allein,

O Uranie! durch Thal und Hayn!

Dein heilig Saitenspiel schläft unter stillem Laube:

Bis von verschmähtem niedern Staube

Sich dein entbundner Geist

Zum Himmel, seinem Ursprung, reisst.


Den Sternen schwingest du

Dein brausendes Gefieder zu,[85]

Durch unsre gröbre Luft, die Werkstatt rother Blitze;

Und wo, wann Gott von seinem Sitze

Die Welt im Wetter schilt,

Sein ausgesandter Donner brüllt.


Du dringst Auroren nach

In ihr bepurpert Schlafgemach;

Und siehst in blauer Höh die Erde silbern glänzen.

Bald reisst aus unsers Titans Gränzen

Dich dein entflammter Sinn

In andrer Sonnen Herrschaft hin.


Die Erde scheint wie Nichts

In jenen Gegenden des Lichts,

Wo deiner Blicke Flug an fremde Welten landet.

Dort wo ihr niemals überwandet,

Ihr Weltbezwinger! seht,

Wie euer Stolz euch hintergeht.


O göttlich hoher Flug!

Mein Flügel ist nicht stark genug,

Sich dir auf Neutons Pfad, o Muse! nachzuschwingen.

Ich will im niedern Busche singen,

Wo Erato sich kühlt

Und Amorn lockt, mit Amorn spielt.

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 84-86.
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Sämtliche poetische Werke
Sämtliche poetische Werke. Hrsg. von A. Sauer

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