Mary

[209] Von Irland kam sie mit der Flut,

Sie kam von Tipperary;

Sie hatte warmes, rasches Blut,

Die junge Dirn, die Mary.

Und als sie keck ans Ufer sprang,

Da riefen die Matrosen:

»Die Dirne Mary, Gott sei Dank,

Gleicht einer wilden Rosen!«


Und als sie schritt zum Markte frank,

Sprach ein Gesell mit Grüßen:

»Die Dirne Mary, Gott sei Dank,

Geht auf zwei weißen Füßen.«

Und als sie saß zu Liverpool

Mit schwarz verwegnen Blicken,

Da wollten sich um ihren Stuhl

Die Menschen schier erdrücken.


Von Irland kam sie mit der Flut,

Sie kam von Tipperary:

»Wer kauft Orangen, frisch und gut?«

So rief die Dirn, die Mary.

Und Mohr und Perser und Mulatt

Und Juden wie Getaufte –

Das ganze Volk der Handelsstadt,

Es kam und kaufte, kaufte.
[209]

Da fuhr kein Schiff den Fluß hinauf,

Da schwamm auch keins zum Meere:

Saß ein verliebter Schiffsjung drauf

Und dacht: Oh, wenn ich wäre

Erst auf dem Markt zu Liverpool,

Da sitzt von Tipperary,

Mit den Orangen auf dem Stuhl,

Die junge Dirn, die Mary!


Gab es wohl größre Liebe je?

Die Dirn am Mersey-Strande

Hatt tausend Schätze auf der See

Und mehr noch auf dem Lande.

In jeder Zone, wo der Mast

Von einem Fahrzeug krachte,

Schwamm eine Seemannsseele fast,

Die an Orangen dachte. –


Sie aber trotzte wild und keck,

Ob auch die Lippen brannten,

Stets an des Markts geschäft'ger Eck

Den bärtigen Bekannten.

O Leid um all die frischen Küss –

Sie hatte kein Erbarmen,

Sie fluchte, schrie, und ach, sie riß

Sich los aus allen Armen!
[210]

Und mit dem Geld, das sie gewann

Für saft'ge, goldne Früchte,

Lief hurtig sie nach Hause dann

Mit zornigem Gesichte.

Sie nahm das Geld und schloß es ein;

Und erst im Januare

Gen Irland sandte flink und fein

Das blanke sie und bare.


»Das ist für meines Volkes Heil,

Das schenk ich euern Kassen!

Auf, schärft den Säbel und das Beil

Und schürt das alte Hassen!

Wild überwuchern möchte gern

Den Klee von Tipperary

Die Rose England – grüßt den Herrn

O'Connell von der Mary.«
[211]

Quelle:
Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 1, Berlin 1956/57, S. 209-212.
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