An den May

[38] (zu Berlin den 27ten May 1761.)


Freuden-Schöpfer! Monat, der dem Jahre

Zierath gab, und diese jungen Haare

Auf der Bäume kahlgestandnes Haupt;

Eile langsam mit gesenkten Schwingen!

Bleib noch! laß mich deine Reitze singen,

Eh' ein kriechend Gift den Baum entlaubt.


Deiner Ankunft freuten sich die Hirten

Und becränzt mit frischgebrochnen Myrten

Stampften sie das jugendliche Graß;

Da indessen Damon ohne Zeugen

Unter krumgewachsnen dichten Zweigen,

Schlau verborgen, bey der Phillis saß!
[39]

Du erscheinst mit ganzen Myriaden

Bunter Blumen um und um beladen,

Die du auf der Erde Schooß gestreut;

Deine weisse Silberglöckchen düften

Ihren Balsam aus, und in den Lüften

Singen Lerchen deine Lieblichkeit.


Von der Liebe treulich unterrichtet

Singt ein Vogel, der wie Sapho dichtet,

Ganze Nächte in der Ode Thon.

Nachtigallen singen ihre Klagen,

Und der Sperling in den alten Tagen,

Hüpft und buhlt noch, wie Anacreon.


Du erweckst mit deinem sanften Hauche

Alle Creaturen zum Gebrauche

Ihres Lebens, das so bald verflieht;

Bienen summen, und die kalten Frösche

Sagen, durch ihr quackendes Gewäsche,

Daß die Freude sie ans Ufer zieht.
[40]

Grüner machst du Blätter an den Zweigen

Die sich um den Schlaf des Jünglings beugen,

Der im Marsfeld wie ein Löwe stritt;

Alle Jahre kommest du mit neuen

Blumen, auf des Helden Grab zu streuen,

Dessen Faden früh die Parce schnitt.


Holder May, bey jenem Siz der Musen,

Wo die Oder ihren ofnen Busen

Mit erschlagner Russen Blut geschwärzt,

Liegt ein Dichter, der dich einst gesungen;

Hundert Seelen hat sein Tod durchdrungen,

O, er starb voll Wunden, und beherzt!


Von dem größten Künstler der aus Steinen

Bilder machet, die, wie Menschen weinen,

Werdest du gehauen auf sein Grab.

In Gestalt des Mädchens, die ihn dachte,1

Mit dem Schooß voll Blumen, die sie brachte,

Zeichne dich des Künstlers Meissel ab!
[41]

Wenn alsdann in spätgekommnen Tagen,

Wandrer nach des Grabes Nahmen fragen,

Nenn' ein Marmor-Schild den sanften Kleist,

Der nur Zorn empfunden gegen Feinde;

Eine Tafel nenne seine Freunde,

Und berichte, wie das Mädchen heißt,


Die, gereizet von des Helden Ruhme,

Seinem Staube, diesem Heiligthume,

Tausend Frühlings-Kinder opferte!

Schöner Monat, komme oftmahls wieder!

Streu aus deinem Schoosse Blumen nieder

Vor dem Mädchen, daß es sanfter geh'!

Fußnoten

1 Die Dichterin meinet die Jungfer Gause, deren Geburtstag am 27ten May gefeyert wurde, von welcher man erzählte, daß sie zu Franckfurth gewesen, und daselbst das Grab des Herrn von Kleist mit Blumen bestreuet habe.


Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 38-42.
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